CHRISTIANE LATENDORF
 
Hans bei Nacht
2010 - Drei geschnittene Buntpapiere, drei Farbstifte.
Für Christiane Latendorf von Dr. Heiner Protzmann, Dresden 2011
 
... Was ist eigentlich ein sublimes Meisterwerk? Mir fallen wenige Kriterien ein, und es muß nicht immer gleich eine Assuntes oder Sixtina sein. - Also: Durchschlagend im ersten Augenblick die Wirkung. Kein Wort zuviel, keins zu wenig. Hinter der ersten Schicht der stilistischen Mittel sprechen sofort die tieferen Schichten mit. Die Analyse bestätigt und vertieft die Liebe auf den ersten Blick.
  Man kann vielleicht noch sagen: Treffer ersten Ranges gelingen auch Künstler ersten Ranges - gelinde gesagt - nicht täglich. Also: eine gewisse Seltenheit; mag das Gesamtwerk, Oeuvre genannt, noch so funkeln. Formate sind gleichgültig, die investierte wohl zu würdigen, doch keinesfalls ein Kriterium. (Andere würde ich hier nicht zulassen.)
 
Wenden wir uns dem Blatt zu. Viele Analysen wären in einer Ansprache nicht zumutbar. So soll es an einem Beispiel durchgeführt werden.
  Schwarz sind nachts nicht nur alle Raben. Dieser hier ist ja gar nicht schwarz, würde sofort ein Kind einwenden. Augenblicklich verstehen aber würde es, daß schwarz die Nacht des Raben ist und der Vogel selbst darin gar nicht sichtbar. Christiane Latendorf denkt an diesen treuen Hausgenossen Hans und tut dies in sanftem Hellblau. Das Tier hatte seinen Charakter längst in ihrer Seele verankert, und wir wissen, welche Farbfülle dort eigentlich versammelt ist. Doch alle Tagesfarben dieser oft so quirlig bunten Kunst sind in diesem Blatt weggedämft. Es ist ein absolut stilles Bild. Sehen wir es uns richtig an.
 
"Richtig" war schon, daß es uns sofort tief angerührt hat. Vage fühlen wir immer schon wieso.
  Drei Buntpapiere: Nachtviolett, Hellblau, Schwarz - drei Farbstifte: Violett, Beige, gedämpftes Zitronengelb. Kein Wort zuviel, keins zu wenig, Ökonomie der Mittel. Die einzige "scharfe" Farbe ist das Schwarz der Raumtiefe, doch die Schärfe ist ihm genommen, da jeder Weißkontrast schweigt. Es ist halt dunkel. Das gelbe Dreieck oben links gibt einen Akzent, aber etwas gedämpft. - Der Hergang beim Entstehen des Blattes war dieser: Zuerst ein Buntpapierbogen aus Nachtviolett. Da drauf ein hellblauer. Das Original hab ich, da ich dieses schreibe, noch nicht gesehen, sehe aber unten links an der konkaven Einbuchtung im Blau winzige Einschnitte, das dunkelviolett liegt darunter. Dem Blau folgt das Hochrechteck "Rabenschwarz", das oben rechts an den Rand stößt. Diese schiefe nächtliche Dachkammer hat links ein sparsames Randornament, wenige einfache Großformen, wie sie die Traumwelt allein zuläßt: unten besagte Konkave, oben ist das aufgelegte Blau wie ein Pfeil zum Dreieck verkürzt, es bleiben stehen zwei "halbierte" Violettdreiecke (ein geteiltes "Stundenglasmotiv"), auf das Hellblau ist mit Buntstift am Rande der "Kammer" ein gelbes Dreieck gesetzt, mit reichlich blauem Grund ringsum. Dieser lapidare trianguläre Randschmuck ist ein diskretes, vielleicht unbewußt, jedenfalls instinktsicher gesetztes Ausrufezeichen. Ich komme darauf zurück.
 
Nun klebt die Malerin groß den ausgeschnittenen Raben als Blauvogel auf. Er reicht mit breitgefächtertem Schwanz und adlerhaft im Boden verankerten Fängen vom unteren Rand bis fast zum oberen, gegen den sich mondhaft das Rund seines Hauptes wölbt. - Der große Vogel, eine Saatkrähe, war schon tot, als Christiane Latendorf das Blatt komponierte, wie sie mir verrät. Es ist ein Tränenmal für einen alten Freund.
 
Unser Bild ist noch nicht fertig. Jetzt zeichnet sie: Beige die Bodenlinien, wo Hans steht - denn er steht, er sitzt keineswegs: Hans wacht. Nun die wenigen Binnenformen violett: wie der Krummstab eines Bischofs die Schwinge umwandet, Schnabel und - die Hauptsache des ganzen Bildes: das groß schauende Auge, menschlich brudernahe. Sieht man näher hin, was da mit dem Stift hingeschrieben ist (Iris und Pupille unter einem Bogen), so öffnet sich das alte, große Geheimnis um den Ausdruck in der bildenden Kunst. Gleichzeitig aber öffnet sich die Interpretation an dieser Stelle den Zugang von der tatsächlich einzig real vorhandenen Vordergrunds-Schicht der Papiercollage in die tieferen Schichten dessen, was sie ausdrückt.
 
Wenn ich nicht irre, hat Christiane Latendorf nicht zwanzig Versuche gemacht, bis sie dieses Auge "hatte". (Ich stelle ihr diese blöde Frage nicht.) Beileibe sind solche Versuche erlaubt, sogar die Regel. Doch es passt zu ihr nicht. Sie wusste es einfach, es wurde halt so, "ein Antrieb von der Hand" (Gottfried Benn)… Das ist eine alte Erfahrung: Auch die feinste Kunstanalyse macht Halt auf dem weiten Feld der Nuance des mimischen Ausdrucks. Jede winzige Veränderung um Mund und Auge ändert diesen Ausdruck. Das ist seit Jahrtausenden so (wir kennen die Beispiele aus der griechischen Kunst).
  Dieses feine Zeichensystem funktioniert hinter dem Rücken der Sprache, diesseits von ihr. Schon der Säugling liest unser Lächeln, lächelt zurück. Der Ausdruck ist von Worten kaum zu erfassen. "Geistig". "Offen". "Tückisch". "Liebevoll". - es sind Worte, die wir wie Etiketten dem Phänomen aufkleben, ohne das Instrument zu besitzen, das uns sagt, warum das denn so ist.
 
Mit einem Wort: Der Rabe Hans blickt uns, jeden Einzelnen, also auch mich so an: aufmerksam, geistig, unergründlich zeitlos. Man sieht es.
  Freilich gehört zum Verstehen des Blattes alles, was zu beschreiben war. Stimmigkeit ist immer Zusammenklang der Elemente. Das Auge des Rabenvogels ist das Zentrum des Bildes. Auf derselben Blatthöhe haben wir links am Rande dazu das Ausrufezeichen! Die Nachfarben, zumal das sanfte Blau des Vogels, erinnern uns daran, daß das eigentlich doch schwarze Tier hier selber eine Erinnerung ist. Wie in der antiken Kunst steht er für Seelenvogel. Berühmte Verse an den Mond richten sich nun auch an den Rabenbruder: "Breitest über mein Gefieder / lindernd deinen Blick / wie des Freundes Auge mild / über mein Geschick."
 
Das ist sehr hoch gegriffen? In der Tat. So hoch, wie Christiane Latendorf mit derartigen Bildern zu steigen vermag.
 
Dr. Heiner Protzmann
Eine Bildbesprechnung, Dresden 2011
 
Der Scherenschnitt "Hans bei Nacht" wurde veröffentlicht im Kalender 2011 vom Ernst-Rietschel-Kulturring e.V. Pulnitz.
 
     
 
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Ein Text von Dr. Heiner Protzmann, spontan geschrieben nach einem Scherenschnitt von Christiane Latendorf: "Hans bei Nacht". Eine Bildbesprechnung zum Scherenschnitt "Hans bei Nacht", Dresden 2011. Der Scherenschnitt ist 2010 entstanden in Dresden und wurde veröffentlicht im Kalender 2011 beim Ernst Rietschel Kulturring e.V. Pulnitz von Sabine Schubert.